Kommentar |
Unterricht ist ein höchst komplexer Interaktionszusammenhang, der weder ausschließlich als rein sachbezogenes Vermittlungsgeschehen, wie es die pädagogische Didaktik reflektiert, noch als klinisch aus seinen institutionellen Rahmenbedingungen zu isolierender Lehr-Lernprozess zu verstehen ist, wie die Lernpsychologie es zu fassen versucht. Denn fraglich ist bereits, ob so, wie im schulischen Unterricht gelehrt wird, überhaupt dem entspricht, wie gelernt wird. Der Lernpsychologe Klaus Holzkamp (Lernen, 1993) etwa kritisierte den sogenannten Lehr-Lernkurzschluss, den die seinerzeit herkömmliche Kognitionspsychologie zog, indem sie das Lernen aus dem Lehren zu erklären suchte. Wie können wir aber dann angemessener, i.S.v. unreduziert über Unterrichtspraxis sprechen?
Verfolgt man aus hermeneutisch-rekonstruierender Perspektive diesen grundsätzlichen Unterschied lässt sich diesbezüglich zunächst einmal festhalten, dass Unterrichtskontext und Unterrichtsgegenstände unterschiedlichen Deutungen seitens der am Unterricht beteiligten Interakteure, Lehrer und Schüler, unterliegen. Sein didaktischer Inhalt, wie auch seine Form, in der er für diese und jene erscheint, und ebenso der Interaktionszusammenhang, in den beides eingebettet ist, muss seitens der Akteure sinnverstehend erschlossen werden, da Unterricht keine mechanisch determinierte Praxis ist. So betrachtet wird einleuchtend, dass Lehren und Lernen eine aktiver Prozess des Deutens von Unterricht ist.
Mit Blick auf die schulische Sozialisationsforschung wird zudem klar, dass Lehrer und Schüler verschiedene Rollen in der Institution Schule spielen und somit ihre Deutungen und ihr Sprechen im Unterricht nicht zuletzt auch davon abhängig sind. In ihren Rollen spiegeln sich jedoch auch die Rahmenbedingungen der Institution Schule. Die Deutungen bezogen auf Inhalt, Form und Interaktionskontext seitens der Lehrer lassen sich unter dem Titel ‚Unterrichten’, die der Schüler als ‚Aneignen’ beschreiben, wobei deutlich zwischen beiden unterschieden und deren Prozesshaftigkeit betont werden soll. In dem, wie der Lehrer unterrichtet, zeigt er seine Deutungen des Gegenstands, wie er ihn versteht, der Vermittlung, also in welcher Form er ihn erscheinen lassen möchte, und nicht zuletzt der Schüler, wie auch seiner selbst und der Beziehung zwischen ihm und ihnen. In dem, wie Schüler sich unterrichtsbezogen etwas aneignen, zeigt sich, wie sie den Gegenstand und seine didaktische Instruktion, also die Art und Weise seiner Vermittlung, die anderen Schüler, den Lehrenden, das Gesamt an Interaktionen deuten.
Das Medium, in dem sich solche Deutungsprozesse manifestieren und ablesen lassen, ist das Unterrichtsprotokoll. Ein Transskript in Textform, das auf audiovisuellen Aufzeichnungen basiert. Unterricht soll in diesem Seminar also nicht beobachtet, sondern sinnverstehend erschlossen werden, indem die Seminarteilnehmenden die Unterrichtspraxis, die Deutungen der Akteure und deren Rahmenbedingungen forschend erkunden. Die Deutungsprozesse also selbst deutend rekonstruieren. Eine Voraussetzung für dieses Seminar bildet folglich vor allem Neugier, sich mit etwas scheinbar so Bekanntem und Vertrautem wie Unterricht beschäftigen zu wollen. Unterricht erscheint allzu oft trivial, denn schließlich ist doch jeder, der nun studiert, zuvor viele Jahre zur Schule gegangen und sozusagen Profi darin, Unterricht zu verstehen. Aber: der Schein trügt. Unterricht ist eher bis zur Unkenntlichkeit bekannt. Die schnellen Vorurteile über Unterricht aufzuklären, wird daher ein Ziel des Seminars sein. |