Kommentar |
Gelegentlich wird die These aufgestellt, die Schule sorge systematisch für einen steten Nachschub an funktionalen Analphabet/innen – was kann das bedeuten? Ende der 1970’er Jahre wurde eine bis dahin von der UNESCO geführte Diskussion um weltweiten Analphabetismus an die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland adaptiert. „Funktionaler Analphabetismus“ wurde ein spezifisch deutscher begrifflicher Anker der Problematisierung von Bildungsarmut mit dem Fokus auf schriftsprachliche und Grundbildungsdefizite. Ging es zunächst darum, mit speziellen Angeboten der Erwachsenenbildung auf kriegsbedingte Nach-holbedarfe zu reagieren, wurde nachholende Alphabetisierung recht unmittelbar eingeordnet in den Zusammenhang von steigendem Bildungs- und Fachkräftebedarf bei abnehmender Geburtenrate. Der kategorische Imperativ zu lebenslangem Lernen umschloss bald schon auch diejenigen, die dabei am wenigsten gewinnen können. Definitionen für Funktionalen An-alphabetismus haben zwei thematische Kerndimensionen – Lese-Rechtschreibschwäche und Ausschluss von (gleichberechtigter) gesellschaftlicher Teilhabe –, deren Zusammenhang noch längst nicht in zufriedenstellender Weise aufgearbeitet ist. Die Rolle der Schule bei der Entstehung von funktionalem Analphabetismus wird viel, aber nicht systematisch aufgezeigt, und insbesondere Zuwanderung und Integrationsbarrieren sind noch immer abgekoppelte Themen. Hier setzt das Seminar an. „Schulversagen“ und schulische Selektion sind die thematischen Scharniere zwischen Lese-Rechtschreibschwächen und Teilhabebarrieren. Wir beschäftigen uns zunächst mit Entdeckung, Beschreibung, Erklärungsansätzen und den Methoden der Messung von funktionalem Analphabetismus um dann auf Mechanismen der Zuweisung von Teilhabechancen im Zusammenhang mit – tatsächlichen, zugeschriebenen und/oder erzwungenen – sprachlichen Schwierigkeiten. Der neue Analphabetismus-/Alphabetisierungsdiskurs entpuppt sich dabei womöglich als Konsequenz und Teil einer Neu-ordnung schulische Förder- und Selektionskriterien, die an der „Sortierung nach Herkunft“ überhaupt nichts ändert. |