Kommentar |
In den späten 1970er Jahren entwickelten sich innerhalb der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft Strömungen, die verschiedene Namen trugen, jedoch ähnlich motiviert waren: „Alltagsgeschichte“, „Mikrogeschichte“ und „Historische Anthropologie“. Das Hauptanliegen dieser Historikerinnen und Historiker formulierte Richard van Dülmen, einer ihrer profiliertesten Vertreter, folgendermaßen: “Die historische Anthropologie stellt den konkreten Menschen mit seinem Handeln und Denken, Fühlen und Leiden in den Mittelpunkt der Analyse.” Damit grenzte man sich deutlich von der seinerzeit tonangebenden historischen Sozialwissenschaft ab, der es vor allem um das Erkennen anonymer historischer Prozesse ging, die sich „hinter dem Rücken der Beteiligten“ vollzogen.
Im Gegensatz dazu ging und geht es historisch-anthropologisch arbeitenden Forschern vor allem um die veränderlichen Formen menschlichen Handelns und die sich wandelnden Selbstverständnisse der beteiligten Akteure. Praktiken werden wiederum als wesentliche Elemente von umfassenderen Kulturen verstanden. Entsprechend beschreiben die Herausgeber der seit 1993 erscheinenden Zeitschrift „Historische Anthropologie“ ihre Ziele folgendermaßen: „Zentral für die Bearbeitung der unterschiedlichen Themenfelder ist ein umfassender Kulturbegriff: ‚Kultur’ wird nicht als Kennzeichen eines bestimmten Sektors, sondern als Medium der historischen Lebenspraxis insgesamt verstanden. Die Analyse von Ritualen, symbolischen Handlungen und diskursiven Strategien ist in gleichem Maße von Interesse wie die der spezifischen Erfahrungen, Selbstbilder und Praktiken der historischen Akteure und Akteurinnen. Interpretationen und Imaginationen, Verhaltens- und Handlungsweisen sollen in ihren spezifischen historisch-sozialen Zusammenhängen untersucht werden.“
Die Vagheit dieser Formulierung verweist darauf, dass sich hinter dem Begriff „Historische Anthropologie“ eine Vielzahl von recht unterschiedlichen Konzepten und Methoden verbirgt. Im Theorieseminar sollen diese verschiedenen Vorverständnisse und Herangehensweisen dadurch erschlossen werden, dass wir zum einen einige konzeptionelle Aufsätze lesen, zum anderen eine Reihe von exemplarischen Studien vorstellen, die historisch-anthropologisch vorgehen. |
Literatur |
Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Hans-Juergen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbeck 1998, S. 557-578.
Richard van Dülmen, Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, 2. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2001.
Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004.
Jakob Tanner, Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004.
Aloys Winterling (Hg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006. |