Kommentar |
Bis vor einigen Jahren standen historische Biographien im Ruf eines sterilen Traditionalismus. Zwar verkauften sich die Lebensdarstellungen „großer Männer“ (seltener auch „bedeutender Frauen“) stets besser als die meisten anderen historischen Werke. Historiker*innen, die sich auf dem akademischen Feld bewegten, hielten es jedoch überwiegend mit Pierre Bourdieu, der in einem weithin rezipierten Beitrag vor der „biographischen Illusion“ gewarnt hatte. Bourdieu sprach darin biographischen Methoden nicht grundsätzlich Wissenschaftlichkeit ab, sah aber die Gefahr, dass die Autor*innen naiven Vorannahmen aufsäßen: Der dargestellten „großen“ Person würden unverwechselbare Individualität, bewusste Lebensführung und geniales Schöpfertum unterstellt, moderne Konzepte des Selbst mithin, die weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart angemessene Konzepte zur Analyse menschlicher Verhaltensweisen seien.
In den letzten Jahren sind mehrere Biographien erschienen, deren Autor*innen sich mit dieser Kritik intensiv auseinandergesetzt haben. So unterschiedlich diese Darstellungen im Einzelnen sind, immer geht es ihnen darum, die Auseinandersetzung mit einer prominenten Person, deren Leben aufgrund dieser Bekanntheit in den Quellen besonders vielfältige Spuren hinterlassen hat, zu nutzen, um epochenspezifische Verhältnisse und Verhaltensweisen eingehender zu durchdringen und zu einer kulturgeschichtlichen Darstellung zu verdichten. Verbunden ist dies mit besonderen Herausforderungen in Bezug auf die Darstellungsform. Zu fragen wäre, ob diese erneuerte historische Biographik als ein Feld historiographischer Innovation zu gelten hat.
Das Seminar wird diesen Problemen am Beispiel einiger jüngerer Biographien über Personen der Frühen Neuzeit nachgehen. Die Teilnehmer*innen sind deshalb mit einem größeren Lesepensum konfrontiert, denn es wird von ihnen erwartet, dass sie eines dieser Werke durcharbeiten und im Seminar vorstellen. Außerdem sollen sie von Woche zu Woche Einleitungen und/oder resümierende Schlusskapitel aus diesen Darstellungen lesen, um sie gemeinsam diskutieren zu können. So viel sei versprochen, der Zugewinn an Kenntnissen über die Epoche der Frühen Neuzeit und an Reflexionsvermögen über historisches Erzählen lohnt den Aufwand.
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Literatur |
Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: BIOS 3 (1990), Heft 1, S. 75-81.
Matthias Schnettger: Rezension von: Barbara Stollberg-Rilinger: Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: http://www.sehepunkte.de/2017/09/30136.html
Sabine Arnold: Besprechung von: Emmanuel Le Roy Ladurie: Eine Welt im Umbruch. Der Aufstieg der Familie Platter im Zeitalter der Renaissance und Reformation, Stuttgart 1998.
https://www.deutschlandfunk.de/eine-welt-im-umbruch.700.de.html?dram:article_id=81180 |