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Medizinische Settings stellen traditionell ein spannendes Feld für empirische Beobachtungen und konzeptuelle Fragen zu Kommunikation und Interaktion dar. Solche Situationen reichen von 1:1-Situationen beim Hausarzt (Heritage & Maynard 2006) über Mehr-Personen-Konstellationen bei Arztbesuchen von Kindern mit elterlicher Begleitung (Stivers 2012) oder Lehr-Lern-Situationen von angehenden Zahnärzten (Hindmarsh et al. 2014) hin zu hochgradig komplexen Beteiligungsstrukturen wie im OP (Mondada 2014). An diesen Situationen werden je nach Datenlage und analytischem Zugang unterschiedliche Dimensionen der Interaktion im medizinischen Kontext relevant: Partizipationsmöglichkeiten, das Herauskristallisieren einer Diagnose, der Umgang mit Schmerz, Angst oder Betroffenheit, verkörperte Interaktionspraktiken, die Beziehungsgestaltung von Arzt und Patient/in oder die Einbettung der Interaktion in institutionelle Logiken und materielle Praktiken.
Im Seminar wollen wir zum einen den Forschungsstand zur Interaktion in medizinischen Settings in seinen Grundzügen aufarbeiten und dabei v.a. die Perspektiven aus Gesprächsforschung, Interaktionaler Linguistik und den Workplace Studies an diesem Untersuchungsgegenstand näher verstehen. Zum anderen wollen wir den Ansatz der Workplace Studies (Knoblauch & Heath 1999) mit ihrem Fokus auf die multimodale Komplexität von medizinischen Mehr-Personen-Konstellation, auf die technische Verfasstheit von kommunikativen Prozessen und ihre Einbettung in institutionelle Logiken anhand eigener kleiner studentischer Projekte vertiefen. Hierfür können wir u.a. auf ein Korpus von Triagierungen (d.h. Sichtung von Verletzten mit dem Ziel, sie Kategorien entsprechend ihrer medizinischen Dringlichkeit einzuteilen) im Rahmen von Großübungen zum sog. Massenanfall von Verletzten zurückgreifen (Pitsch et al. 2020). Diese Situationen wurden mit mehreren Video-Kameras und mobilen EyeTracking-Brillen aufgezeichnet und sind insbesondere spannend für die Frage komplexer Beteiligungsstrukturen, pronominaler Referenz, Diagnose-Stellung, die interaktive Aushandlung von Kategorien, institutionelle Logiken sowie die Multimodalität von sozialer Interaktion.
Eine Besonderheit des Seminars besteht darin, dass es in Kooperation mit dem interaktionslinguistischen Seminar "Sprachliche Interaktion in medizinischen Settings" von Prof. Dr. Susanne Günthner an der Universität Münster durchgeführt wird. Für Fr, 12.01.2024 ist eine gemeinsame Sitzung beider Seminare an der Uni DUE vorgesehen (10 - 17 h), in der die studentischen Teams aus Essen und Münster jeweils den aktuellen Stand ihrer Projekte präsentieren und im gemeinsamen Rahmen diskutieren.
Das Seminar wird im MA im Bereich "Multimodalität & Kommunikationstechnologien" angeboten und eignet sich aufgrund seines projekt- und forschungsorientierten Zuschnitts sowohl für das Aufbau- als auch das Forschungsmodul.
Das Seminar wird zusätzlich im BA Modul "Kommunikation-Interaktion-Sprache" und im Vertiefungsmodul "Kommunikation-Interaktion-Sprache" angeboten. |
Literatur: |
Literatur:
Heritage, John, und Douglas W. Maynard. „Introduction: Analyzing interaction between doctors and patients in primary care encounters“. In Communication in medical care. Interaction between primary care physicians and patients, herausgegeben von John Heritage und Douglas W. Maynard, 1–21, 2006.
Hindmarsh, John, Lewis Hyland, und Avijit Banerjee. „Work to make simulation work. ‘Realism’, instructional correction and the body in training“. Discourse Studies 16, Nr. 2 (2014): 247–69.
Knoblauch, Hubert, und Christian Heath. „Technologie, Interaktion und Organisation: Die Workplace Studies“. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 25, Nr. 2 (1999): 163–81.
Mondada, Lorenza. „Instructions in the operating room. How the surgeon directs their assistants hands“. Discourse Studies 16, Nr. 2 (2014): 131–61.
Pitsch, Karola, Peter Bachmann, und Marcel Dudda. „‚Triage‘ in Mass Casualty as Situated Interaction. Algorithm and Participation“. In: ECSCW 2020, Siegen, Germany, 2020, 4 pages.
Stivers, Tanya. „Physician-child interaction. When children answer physicians’ questions in routine medical encounters“. Patient Education and Counseling 87, Nr. 1 (2012): 3–9.
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