Frauenfiguren mit Krankheiten bilden ein konstitutives Merkmal in Émile Zolas Romanzyklus der Rougon-Macquart (1871-1893). Für Letzteren fungiert der Familienstammbaum als Trägerfigur des naturalistischen Modells, die die Milieustudie um den determinierenden Faktor der genetischen Prädisposition ergänzt. Zuvor haben sich auch schon die Brüder Goncourt auf Frauenfiguren und ihr Scheitern aufgrund genetischer Veranlagung fokussiert, etwa mit Renée Mauperin (1864) oder Germinie Lacerteux (1864). Wir werden ausgewählte Textpassagen unter Berücksichtigung der Konstruktion der Frauencharaktere und ihres Leidens bzw. Scheiterns an Krankheiten, „Neurosen“, „Hysterien“ … gemeinsam beleuchten.
Wie greift der Familienroman des 21. Jahrhunderts dieses literaturhistorische Erbe der „imaginaire généalogique“ auf? Dieser Frage wollen wir dann am Beispiel des Romans Sciences de la vie der Autorin Joy Sorman nachgehen, in dem die 17-jährige Protagonistin Ninon an einer enigmatischen Krankheit leidet, wie alle ältesten Töchter ihrer langen Ahnenreihe. Wir werden unter Einbezug des aufblühenden Forschungsfeldes der Poétiques du care untersuchen, inwiefern dieser Roman die determinierende Kraft der genealogischen Erzählung erschüttert.
Ausgewählte Textauszüge aus Primär- und Sekundärliteratur werden Ihnen in einem Reader zur Verfügung gestellt. Bitte lesen Sie vor Beginn der Vorlesungszeit den folgenden Roman, der gebraucht günstig zu erwerben ist:
Joy Sorman, Sciences de la vie, Paris, Seuil, 2017.
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