Kommentar: |
Die 1960er Jahre stehen auch in Deutschland für einen tiefgreifenden Wandel in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens: Noch bis weit in die 60er Jahre hinein hemmen konservative Kräfte eine gesellschaftliche Entwicklung hin zu einer tendenziellen Liberalisierung aller sozialen und kulturellen Lebensbereiche, auch was die Sexualmoral betrifft. In dieser noch sehr stark durch restaurative Tendenzen geprägten Zeit der Ära Adenauer und der gleichzeitig aufkommenden Umbruchstimmung vor 1968 spielt der – stark autobiografische – Roman Keiner weiß mehr von Rolf Dieter Brinkmann (erschienen 1968). Auch im Roman stehen sich zwei gegensätzliche Lebensentwürfe gegenüber: auf der einen Seite das Modell eines herkömmlich bürgerlichen Lebens, das sich an unhinterfragten Normen und sexualmoralischen Tabus orientiert, und auf der anderen Seite ein an Vorbildern dessen, was später als Popkultur bezeichnet wurde, ausgerichtetes Leben, das sich v.a. durch das Streben nach Befreiung von den vorgegebenen Normen auszeichnet. Der Roman thematisiert auf assoziative Weise die Unruhe und Frustration des Protagonisten im gesellschaftlich-medialen, aber auch im Spannungsfeld zwischen ihm, seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Kind. So ist der Roman geprägt von einer bedrückenden, zermürbenden Grundstimmung; zwischenmenschliche Beziehungen sowie die Selbstwahrnehmung des Protagonisten erscheinen als unterschwelliger Ausdruck von Zwängen, Obsessionen und Ängsten. In der gemeinsamen Lektüre soll es wesentlich um die Frage gehen, welche Bedeutung den im Roman reflektierten Medien (Fotografie, Film, Musik, Fernsehen und Werbung) innerhalb solcher psycho-sozialer Konflikte zukommt. Darüber hinaus soll der – für Brinkmanns romanpoetologische Überlegungen ganz wesentlichen – Frage nachgegangen werden, wie sich ‚Wirklichkeit‘ im Medium der Literatur angemessen beschreiben lässt. Dies wiederum verweist auf Konzeptionen eines ‚realistischen‘ Schreibens, die ebenfalls in Ansätzen erarbeitet werden sollen. |