Kommentar: |
Im Zuge gesellschaftlichen und medialen Wandels kam es in den 1920er Jahren im Rahmen der ‚Neuen Sachlichkeit‘ in der Literatur zur Aufnahme von Verfahren der Wirklichkeitsdarstellung, die den Massenmedien wie Zeitung, Rundfunk und Film entlehnt waren und literarische Gattungen wie die Reportage oder den Dokumentar- oder Montageroman hervorbrachten und populär machten. Begleitet wurde die an Objektivität, Präzision und Verständlichkeit orientierte literarische Produktion von der Kontroverse um den Realismus-Begriff (Brecht, Lukács, Benjamin). In den 1960er Jahren kam es dann, zunächst im Bereich des politischen Theaters, zur Aufnahme und Weiterentwicklung dokumentarischer Formen, die an zeitgeschichtlichen Stoffen erprobt wurden und mit denen sich v.a. die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Kapitalismus-Kritik und eine Kritik an der US-amerikanischen Außenpolitik (Vietnamkrieg) verbanden. Allerdings etablierten sich in dieser Zeit weitere Formen dokumentarischer oder protokollarischer Literatur in West und Ost, die häufig auf einen Authentizitätseffekt abzielten, jedoch zugleich auf mediale Referenzialität reflektierten. Die sich dokumentarischer Verfahren bedienende Literatur der 1960er und 70er Jahre verstand sich zumeist als politisch-operative Literatur und wandte sich damit gegen bürgerlich-etablierte Kunstformen von Literatur. Dieses literatur- und medienhistorische Feld, das hier nur skizzenhaft umrissen werden kann, steckt den Hintergrund der im Seminar zu diskutierenden Texte ab, die in jüngerer Zeit entstanden sind. Anhand von Texten unterschiedlicher literarischer Gattungen (Reportage, Tagebuch, Roman, Kurzgeschichte und Essay), die das Spannungsverhältnis zwischen ‚authentischem‘ Material und literarischer Fiktion auf je eigene Weise austarieren, wird zu fragen sein, wie Autorinnen und Autoren seit den 1990er Jahren, da eine Orientierung an dokumentarischen Verfahren wieder verstärkt zu beobachten ist, ihr Material recherchieren, aufbereiten und präsentieren. So wird in doppelter Perspektive zu untersuchen sein, welche gesellschaftlichen Bereiche durch dokumentarische Literatur erschlossen werden und welche – spezifisch literarischen oder auch an anderen Kunstformen orientierte – Strategien der Darstellung, Reflexion und Analyse sich beobachten lassen.
Von allen Teilnehmern wird die Bereitschaft zur Übernahme einer Textpatenschaft erwartet. Diese impliziert die Präsentation eines literarischen Textes vor dem Hintergrund eines Forschungsbeitrages.
Den Seminarplan können Sie auf meiner Homepage herunterladen: https://www.uni-due.de/germanistik/caspers/lehre |