Kommentar: |
Der sogenannte „Sommer der Migration“ im Jahr 2015 hat die öffentliche Debatte um Migration nachhaltig polarisiert. Dabei wird meist zwischen verschiedenen migrantischen Gruppen unterschieden: Während beispielsweise die Anwerbung und Ausbildung von Fachkräften aus dem Ausland als Chance für die deutsche Volkswirtschaft begriffen wird, erscheint die Aufnahme von Geflüchteten häufig als Zusatzbelastung für den Wohlfahrtsstaat (siehe z.B. die kürzlich von CDU-Chef Merz aufgestellte Behauptung, viele ukrainische Geflüchtete würden in Deutschland einen regelrechten „Sozialtourismus“ betreiben, tagesschau.de 27.09.2022). Die Konkurrenz auf angespannten Wohnungs- und Teilarbeitsmärkten sowie um den Zugang zu Sozialleistungen einerseits und die gegenwärtig steigende Bedeutung von Grenzen und nationalstaatlicher Souveränität andererseits kann dabei rassistische Ressentiments erzeugen bzw. befeuern, die wiederum innergesellschaftliche Spaltungslinien hervorbringen.
Im Umgang mit Migrationsbewegungen tritt der Staat als regulierende Instanz auf. Die politische und institutionelle Steuerung der Migration navigiert dabei im Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der Wirtschaft, der (Arbeits-)Bevölkerung und den Migrant*innen selbst. Dies führt zur Herausbildung dessen, was in der soziologischen Debatte u. a. als „Migrationsregime“ bezeichnet wird. Der Regimebegriff verweist sowohl auf historische Kontingenzen als auch auf Umbrüche im Umgang mit Mobilität und der Präsenz von Migrant*innen. Die jeweiligen Regime unterscheiden sich dabei voneinander, je nach gesellschaftlicher Sphäre und (sozial‑)räumlichem Kontext. Jedes Teilregime ist durch eigene institutionelle Normen, Strukturen und Handlungsweisen geprägt. Einige Migrationsregime überlappen einander, andere wiederum stehen sich konflikthaft gegenüber (Oltmer 2016: 345).
Das Seminar geht von der Annahme aus, dass die Perspektive auf und die Regulierung von Migration zu einem bedeutenden Anteil durch die dynamische Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften geprägt werden. Dementsprechend wird der Themenkomplex „Migration und Migrationsregime“ vor dem Hintergrund der kapitalistischen Vergesellschaftung der Arbeit und Produktion diskutiert. Dies schließt u. a. Fragen nach der globalen und nationalen Arbeitsteilung sowie nach der spezifischen Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft ein. Doch auch der Umgang mit Fluchtmigration (inkl. der zukünftig relevanter werdenden „Klimamigration“) ist Gegenstand des Seminars. Nach einer grundlegenden Einführung in die Thematik nähern wir uns an marxistische bzw. klassenspezifische und feministische Perspektiven auf Migration und Migrationsregime an. Vor allem vier Regime stehen dabei im Zentrum der Betrachtung: Akkumulations- bzw. Ausbeutungsregime, Arbeitsregime, Grenz- und Fluchtregime. Gleichzeitig werden die (autonomen) Praktiken der Migrant*innen im Hinblick auf ihre Mobilität, ihre soziale Reproduktion und ihre Selbstorganisation in den Fokus der Analyse gerückt. Anhand von Beispielen aus verschiedenen Weltregionen soll eine Verbindung zwischen den im Seminar erarbeiten theoretischen Konzepten und beobachtbaren Migrationsdynamiken hergestellt werden.
Literatur
Oltmer, Jochen (2016), Das Aushandeln von Migration: Historische und historiographische Perspektiven, ZSE, Jg. 14, H. 3, S. 333–350.
Teilnahmevoraussetzungen
Alle Studierenden, die sich für Migration, Kapitalismus und Klassenverhältnisse interessieren, sind herzlich eingeladen, an dem Seminar teilzunehmen. Theoretische Vorkenntnisse werden nicht vorausgesetzt. Als Studienleistungen werden die aktive Beteiligung an der gemeinsamen Diskussion, die gründliche Lektüre der Seminarliteratur und das regelmäßige Verfassen von Thesenpapieren erwartet. Die konkrete Ausgestaltung der Prüfungsleistung wird im Seminar besprochen und auf Moodle verschriftlicht. |